Die Geschichte besagt, dass der italienische Dichter Ludovico Ariosto, ein Zeitgenosse von Martin Luther, seinem großzügigen Beschützer, dem Kardinal Ippolito d’Este voller Dankbarkeit die Epopöe Orlando furioso gewidmet und überreicht hat, als dieser nichts anderes zu fragen wusste als die eine Sache: „Ludovico, woher holst du die vielen Geschichten?“ Vier Jahrhunderte nach dieser sowohl gerechtfertigten, jedoch auch naiven Frage, genauer gesagt im Jahre 1907, behauptete der wienerische Arzt Sigmund Freud in einem berühmten Vortrag, dass wir, einfache Menschen, schon immer fürchterlich dafür „brannten“, zu erfahren, woher der Dichter seine Themen holt und wie er es schafft, uns mit seinen Worten zu beeindrucken. Sigmund Freud behauptete noch, dass die Schriftsteller stillschweigend mit den Schultern zucken, wenn ihnen solche Fragen gestellt werden, und falls sie doch manchmal antworten sollten, die Informationen, die sie uns liefern, unbefriedigend sind und uns, einfachen Menschen, in keinster Weise helfen, selbst Dichter zu werden. Offensichtlich könnte ich, wenn ich Paul Celan eine Frage bezüglich seines dichterischen Werkes stellen würde, höchstens eine genauso schleierhafte Antwort, wie es seine Versen auch sind, erwarten. Jede Frage zu Paul Celans Werk müsste ich ausschließlich dem Werk selbst oder dessen Exeget:innen stellen. Das klingt paradox, aber der Exeget weiß mehr über das Werk des Schriftstellers als der Schriftsteller selbst. Auf diesem Paradoxon hatte Sigmund Freud seine gesamte Theorie bezüglich des Träumens mit offenen Augen aufgebaut – der Tagtraum – ein Ausgleich zur Phantasie, eine Charakteristik sowohl der Schriftsteller als auch der einfachen Menschen. Der Zugang zu den tiefliegenden Schichten des ästhetisch ausgedrückten Tagtraums ist nur dem literarischen Hermeneut, dem Exeget, möglich, dem Dichter allerdings nicht. Wenn ich also Paul Celan eine Frage stellen könnte, wäre es eine über sein menschliches Dasein auf dieser Welt. Paul Celan würde mir vielleicht etwas über die gefallene imperiale Bukowina sagen, über Czernowitz, die gleichermaßen Eminescus Stadt gewesen ist, über seine Freundschaft zu dem Dichter, Übersetzer und Musiker Immanuel Weissglas, über die Grausamkeiten des Holocausts, über die Kollegen aus der Redaktion des Verlags „Cartea rusă“ aus Bukarest, über Claire Goll und ihre Verleumdung, die an ihrer Gesundheit genagt hat, über seine Liebesbeziehung zu Ingeborg Bachmann, über die manchmal harmonische und oft angespannte Beziehung zu der plastischen Künstlerin Gisèle Lestrange, über die Brücke über der Seine, er war oft spazieren gegangen, bevor er vor 50 Jahren entschlossen hatte, sich umzubringen. Und was würde ich wohl über Paul Celans Poesie erfahren, indem ich mir all diese Geständnisse anhören würde? Wenig, viel zu wenig, vielleicht gar nichts. Deshalb werde ich dem Menschen Paul Celan keine Frage stellen. Dafür aber werde ich weiterhin unendlich viele Fragen dem Dichter Paul Celan stellen, genauer gesagt: seinem Werk. Ich weiß, ich werde mich in den Antworten, die aus Paul Celans dichterischem Werk stammen, immer wiederfinden, mit all dem, was ich meinerseits, als Frau der Feder, nie sein werde.
„Es gibt tatsächlich viele rumänische Autor:innen, die ich sehr reizvoll finde”
Ab dem 30. September 2022, dem Internationalen Tag des Übersetzens veröffentlicht dlite unter dem Motto „Becoming Visible“ eine Reihe virtueller Gespräche zwischen Übersetzer:innen; dabei geht es uns vornehmlich um Herausforderungen, Vorgehensweisen und die berufliche Erfahrung der Held:innen, die uns fremdsprachige Bücher näherbringen.