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„Es gibt tatsächlich viele rumänische Autor:innen, die ich sehr reizvoll finde”

Ab dem 30. September 2022, dem Internationalen Tag des Übersetzens veröffentlicht dlite unter dem Motto „Becoming Visible“ eine Reihe virtueller Gespräche zwischen Übersetzer:innen; dabei geht es uns vornehmlich um Herausforderungen, Vorgehensweisen und die berufliche Erfahrung der Held:innen, die uns fremdsprachige Bücher näherbringen.
  1. Was ist das Besondere an Literaturübersetzer:innen? Vor welchen Herausforderungen stehen Übersetzer:innen?

Gundel Große: Das Besondere an Literaturübersetzer:innen ist, dass sie mit einer der sog. schönen Künste arbeiten und sich in vielen Stunden am Schreibtisch mit Dingen auseinandersetzen, die man mitunter der Außenwelt schwer vermitteln kann.

Die Herausforderungen sind bei jedem Text natürlich unterschiedlich- grundsätzlich muss man bereit sein, sich auf eine besondere erzählerische Welt und deren sprachliche Gestaltung einzulassen und sie in all ihren Dimensionen zu durchdringen, um sie so adäquat wie möglich übersetzen zu können.

Als größte Herausforderung würde ich im Augenblick die Erkenntnis formulieren, dass sich nicht alles sprachlich perfekt übertragen lässt, weil jede Sprache natürlich ihre ganz eigene Sicht auf die Welt vermittelt, und dass eine Übersetzung dementsprechend immer ein „Arbeitszustand“ ist. Da man sich selbst durch die Arbeit ständig weiterentwickelt, wird sich der Blick auf das eigene übersetzerische Schaffen rückblickend auch verändern. Das gilt es auszuhalten.

Peter Groth: Ich möchte die Frage zunächst ein wenig umformulieren, um eine angemessene Antwort geben zu können: Was ist das Besondere an einer Literaturübersetzung? Es geht dabei eben nicht darum, einzelne Wörter von einem Sprachsystem in ein anderes zu überführen, wie es zum Beispiel bei stark formalisierten Textsorten wie Bedienungsanleitungen, Verträgen, und ähnlichen der Fall ist. Bei der Übersetzung von Literatur geht es immer auch um die Übertragung von Erfahrungswelten aus einer Sprach- und Lebenswelt – hier: des Textproduzierenden – in eine andere – hier: des idealen Lesenden. Damit ist der Übersetzende immer mit seinem ganzen biographischen Instrumentarium aus Erfahrungen, Emotionen, Wissen und Erlerntem auf ganzheitliche Weise gefordert. Beim Übersetzen liest man den Originaltext auf eine intensive und eindringliche Weise, die unvergleichbar ist. Denn nur so erspürt man den Text in seinem ursprünglichen Wesen. Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass man literarisches Übersetzen nur zu einem gewissen Teil erlernen kann, was die technischen, die grammatikalischen, die formalen Aspekte betrifft. Um den Atem des Autoren und der Autorin zu erspüren, dafür bedarf es anderer Sensorien aus anderen Prädispositionen, die nicht aus dem Lehrbuch zu erschließen sind.

  1. Hat dich jemand zu oder in deiner Arbeit inspiriert?

Gundel Große: Mich hat meine lange wissenschaftliche Arbeit mit der rumänischen Literatur und ihren Texten sowohl im Original als auch in Übersetzung sowie immer wieder auch die Notwendigkeit, für wissenschaftliche Beiträge oder Seminare Textausschnitte selbst zu übersetzen, folgerichtig zu eigener Übersetzungsarbeit gebracht.

Eine Initialzündung dafür, mich dann aktiver für die Vertiefung meines Interesses am Übersetzen zu engagieren, kam durch den Workshop, den Anke Pfeifer 2016/2017 am Rumänischen Kulturinstitut in Berlin organisiert hatte. Die dortige Runde von begeisterten Übersetzer:innen und die detaillierten Diskussionen am Text haben mir in gewisser Weise überhaupt erst die Augen geöffnet dafür, was genau das Literaturübersetzen bedeutet.

Peter Groth: Mit dem Thema intensiver auseinandergesetzt habe ich mich erst, als ich schon begonnen hatte, Literatur zu übersetzen. Als Name fällt mir Harry Rowohlt ein. Und die deutsche Übersetzung von Finnegan’s Wake von Dieter Stündel („Finnegans Wehg. Kainnäh ÜbelSätzZung des Wehrkeß fun Schämes Scheuß“) aus dem Jahre 1993, deren Erstauflage ich damals zum Geburtstag bekommen habe (und an deren Neuübersetzung gerade Ulrich Blumenbach arbeitet).

  1. Welches der Bücher, die du übersetzt hast, gefällt dir am meisten und warum? Gibt es ein Projekt, bei dem du sehr gerne mitgearbeitet hast?

Gundel Große: Ich habe bisher zwei Bücher übersetzt: ein literaturgeschichtliches Fachbuch von Eugen Negrici und einen Roman. Die Arbeit an beiden Büchern hat mir viel Freude bereitet, da sie mich beide geistig sehr bereichert haben. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Der Roman von Radu Pavel Gheo hat mich zum einen aufgrund der Spannung, die der Text zu erzeugen versteht, und zum anderen durch seinen ironischen Zugriff immer wieder begeistert. Außerdem sind mir über die Arbeit am Text die Verwerfungen, die die jugoslawischen Zerfallskriege zwischen den Menschen angerichtet haben, sehr nahe gegangen und ich habe angefangen, viele Autor:innen aus diesem Raum zu lesen.

Peter Groth: Besonders gut gefallen haben mir die Übersetzungen zweier Titel mit historischem Bezug, die auf wahren Begebenheiten beruhten. Das war von Mark Sullivan „Unter blutrotem Himmel“ und vom selben Autor „Das letzte grüne Tal“. Beide Romane spielten im Zweiten Weltkrieg, wobei der erste die Lebensgeschichte eines jungen Italieners in Mailand verfolgt und der zweite von der Flucht einer schwarzmeerdeutschen Familie aus der Gegend um Odessa vor der Roten Armee in den Westen handelt. Das Spannende an diesen Übersetzungen bestand für mich darin, dass es sich um wahre Erlebnisse gehandelt hatte, woraus für mich der Anspruch erwuchs, auch historisch korrekt zu übersetzen. Das betraf zum Beispiel die militärischen Ränge, die Bezeichnung der Fahrzeuge, aber auch die Redeweisen der Personen. Für den Roman über die Flucht der schwarzmeerdeutschen Familie habe ich deshalb auch Kontakt zur Landsmannschaft der Deutschen aus Russland gesucht und ihnen Fragen gestellt: Wie haben die Kinder ihre Eltern angesprochen? Wie hat man Weihnachten gefeiert? Gab es bestimmte Begrüßungsformeln? Und noch verschiedene andere Fragen.

Die Übersetzung des anderen Romans hatte sogar die Umbenennung einer Straße in einer Kleinstadt am Niederrhein zur Folge.

  1. Gibt es ein Wort oder eine Wendung, die dir schlaflose Nächte bereitet hat?

Gundel Große: Schlaflose Nächte hatte ich zwar nicht erlebt, vorstellbar aber sind sie z.B. wegen der Frage, wie man bestimmte rumänische Spezifika ins Deutsche bringen könnte. Dazu gehören so rumänientypische Wendungen wie „regat“ für das rumänische Altreich, der aus Banater Perspektive sicher nicht gerade wertneutrale Begriff der „mitici“ für einen bestimmten Bukarester Menschentypus, der auf die Literatur von Ion Luca Caragiale zurückgeht, oder auch die Frage der Nachbildung des Banater Rumänisch im Deutschen.

Peter Groth: Ich glaube, jeder Text hat seine Herausforderungen, mal sind sie größer, mal kleiner. In dem Roman „Stalin, mit dem Spaten voran“ von Radu Țuculescu gab es ein rumänisches Lied, das der Nachbar des Protagonisten immer wieder laut abspielt und das zum Leitmotiv wird (für Insider: „Of, viața mea“ von Adrian Copilul Minune). Da weder das Lied noch das Genre dieser Musik im deutschsprachigen Raum bekannt ist, musste eine Alternative her, also ein Lied, das ebenfalls vom Leben handelt und gleichermaßen nervtötend ist, außerdem plausibel in einer rumänischen Hochhaussiedlung gespielt werden konnte, und zuletzt natürlich auch der deutschsprachigen Leserschaft bekannt ist. Ich habe mich nach langem Überlegen für „Life is life“ von der österreichischen Band Opus entschieden.

  1. Gibt es einen Autor oder eine Autorin, den oder die du gerne übersetzen würdest?

Gundel Große: Es gibt tatsächlich viele rumänische Autor:innen, die ich sehr reizvoll finde. Eine davon ist Ioana Pârvulescu, deren historische Romane für mich eine interessante Übersetzungsaufgabe sein könnten.

Peter Groth: Ich würde gern Cristina Nemerovschi übersetzen, Florin Irimia und Liliana Nechita.

  1. Becoming Visible. Was verstehst du unter diesem Motto?

Gundel Große: Ich verstehe unter Becoming Visible das, was wir im Augenblick auch im wissenschaftlichen Bereich sehen können: ein Sichtbarmachen der Bedeutung von Übersetzung im Prozess kultureller Vermittlung und, damit verbunden, das Sichtbarmachen und die Wertschätzung der immensen geistigen und kreativen Arbeit, die die Übersetzer:innen leisten.

Durch meine zahlreichen Lektüren bin ich inzwischen durchaus dafür sensibilisiert, wie stark Übersetzer:innen ihre Texte beeinflussen können und wie angenehm oder im schlechtesten Fall auch störend das sein kann. Die Kompetenz, die Vielschichtigkeit eines Textes und seiner Sprache zu erfassen und in die bestmögliche deutsche Form zu bringen, nötigt mir dabei immer wieder den größten Respekt ab.

Peter Groth: Es wird noch immer viel zu wenig über die Arbeit von Übersetzenden gesprochen. Man liest fast mehr fremdsprachige Bücher als (ursprünglich) deutsche Titel, ist sich aber oft gar nicht bewusst, dass man da eigentlich nicht die Stimme der Autorin oder des Autoren liest, sondern die der Übersetzerin. Viel zu gering ist weiterhin die Anerkennung und Beachtung dieser auch schöpferischen Leistung der übersetzenden Zunft. Das bedeutet für mich Becoming Visible.

 

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Manuela Klenke
Übersetzerin. Veröffentlichte Übersetztungen: die Romane von Lavinia Braniște "Null Komma Irgendwas" und "Sonia meldet sich" (mikrotext) sowie der Kurzprosaband "Die grünen Brüste" (danube books) von Florin Iaru. Zurzeit arbeitet sie an einer Anthologie deutscher Gegenwartslyrik, die im Frühjahr 2022 im Verlag Casa de Editură Max Blecher erscheinen wird.

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In ihrer Dissertation mit dem Titel „Europaentwürfe. Positionierungen der rumänischen Literatur nach 1989” hat Miruna Bacali ausgewählte literarische Werke (z.B. von Cărtărescu, Țepeneag, Manea u.v.m.) als historisches Material gelesen. Dabei hat sie die gesellschaftspolitischen Diskurse untersucht, die sich aus den Texten herauskristallisieren. Matei Vişniecs Theaterstücke hat sie als Quelle ausgewählt, weil darin der vielfältige, dynamische Charakter Europas ganz besonders zum Tragen kommt. Der folgende Auszug ist Teil des 3. Kapitels, „Europentwürfe in der literarischen Fiktion“.

„die Wenigsten nehmen die Rolle der Übersetzer:innen wahr”

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