Schriftstellerinnen, Schriftsteller oder Schriftsteller:in? Wie stehen Sie zu den Diskussionen, die im Zuge der Bemühungen um die Gleichstellung der Geschlechter, insbesondere in der Kunst, entstanden sind?
Ioana Nicolaie: Literatur. Hochwertige Literatur, die von Schriftstellerinnen oder Schriftsteller geschrieben wird. Selbstreferenzielle oder fantastische Literatur, experimentelle oder solche die auf die soliden Bausteine des Erzählens setzen, eine Literatur, die die Farbnuancen der unterschiedlichen Geschlechter in der Welt wiedergibt. Cerul din burtă/Der Himmel im Bauch, mein Gedichtband über das ins Leben Treten eines noch nicht geborenen Wesens war der erste seiner Art in unserer Literatur. Bis dahin war Schwangerschaft einee Tabuzone. Nach der Veröffentlichung wurde es sowohl aus ästhetischer als auch feministischer Sicht thematisiert, obwohl ich einfach nur Literatur geschrieben habe.
Ulrike Almut Sandig: Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist ein universelles Menschenrecht. Darunter verstehe ich auch die Freiheit über die eigene geschlechtliche Identität und ihren Ausdruck. Der Kampf dafür ist international und nicht zu trennen von familienpolitischen, ökonomischen und nicht zuletzt medizinischen Problemen. Solange transsexuellen Menschen in Russland das Autofahren nicht erlaubt ist, indische Frauen zu 20 Prozent häufiger analphabetisch sind oder Jungs in deutschen Schulen sich nicht trauen, sich für die Tanz-AG anzumelden, gibt es eine Menge zu tun. Im Vergleich dazu halte ich es für eine kleine, aber wirkungsvolle Geste, Geschlechtervielfalt auch sprachlich abzubilden. Die deutsche Sprache ist reich und gegenwärtig genug, um grammatikalische Weiterentwicklungen mitzumachen, etwa das Mitverstehen des sozialen im grammatikalischen Geschlecht. Ich persönlich nutze gern das Gendersternchen, weil es Geschlechtervielfalt auf eine schöne Weise sichtbar macht. Nicht zuletzt hält Sprache aber auch ein neugieriges Probieren, Neuschöpfen und Austesten aus, vor dem man keine Angst haben muss.
Kann man von Geschlechterdiskriminierung in der deutschen/rumänischen Literaturszene sprechen?
Ioana Nicolaie: Leider gibt es in unserer Literaturwelt immer mehr Einzelkämpfer und es wäre nicht schlecht, wenn es einige Brücken gäbe, die uns miteinander verbinden. Nach dem Wegbleiben der Literaturkritik, nach dreißig Jahren, in denen keine kanonische Aufteilung stattgefunden hat, haben wir nun alles: Konservative Traditionalisten, die nicht einmal eine einzige Schriftstellerin zu ihren Festivals einladen, bis hin zu ideologischen Extremisten, die sich Schriftsteller nennen, obwohl sie die Kunst in der Literatur als absolut nebensächlich betrachten. Der Mittelweg ist leider nicht die Regel. Ja, dementsprechend gibt es Diskriminierung, obwohl die Bücher von Schriftstellerinnen in den letzten Jahren mehr besprochen wurden und auch wichtige Preise bekommen haben.
Ulrike Almut Sandig: Natürlich. Während Frauen deutlich mehr Bücher kaufen und lesen als Männer, sind Autor*innen in den großen Literaturverlagen unter-, im Unterhaltungsgenre aber überrepräsentiert: leichte Kost von Frauen für Frauen, als wäre beiden Seiten mehr nicht zumutbar. Kommt noch eine Marginalisierung wie Queerness oder Color hinzu, lassen sich die Vertreterinnen an einer Hand abzählen. Das entspricht überhaupt nicht der demographischen Zusammensetzung an den deutschen Schulen.
Mich persönlich strengt an, dass meine Bücher autobiografischer gelesen werden als die meiner männlichen Kollegen. In meinem neuen Gedichtband „Leuchtende Schafe“ gibt es einen Zyklus über häusliche Gewalt und Depression bei Müttern, eine Auftragsarbeit für eine Berliner Musiktheaterregisseurin. Rezensenten (hier bewusst nicht gegendert) lesen ihn autobiographisch, kennen also den Unterschied zwischem lyrischem Ich und Autorinnenstimme nur theoretisch. Aber auch bei meinem letzten Buch, dem Roman „Monster wie wir“ gab es eine nicht abreißende Kette von Rezensionen, die etwaige etwaige Parallelen zu meiner Kindheit sah, so dass ich die Website meines wunderbaren Vaters vom Netz nahm, um ihn zu schützen. Wenn die Autorin in einem Band, der auch sexuelle Gewalt thematisiert, zum Opfer stilisiert wird, wähnt man sich als Rezensent und Leser auf der sicheren Seite, denn Opfer sind ja immer die Anderen. Der Unterschied zwischen Autorin und Erzählerin wird mir mit jedem neuen Buch wieder abgesprochen. Das geht mir echt auf die Nerven.
Welche Bedeutung wird den Literaturpreisen eingeräumt?
Ioana Nicolaie: Ansehnliche Preise, die von glaubwürdigen Jurys vergeben werden, haben eine gewisse Bedeutung. Zumindest eine Zeitlang bringen sie einige Bücher und einige Autoren ins Rampenlicht. Das beeinflusst nicht unbedingt die Verkaufszahl der ausgezeichneten Bücher, so wie das in anderen Kulturen üblich ist. Ich persönlich war überrascht, dass mein Roman Cartea Reghinei/Reginas Buch schlichtweg mit vier wichtigen Preisen ausgezeichnet wurde. Wir waren noch in der Pandemie, also habe ich mich hübsch angezogen und sie sie über Zoom entgegengenommen. Wirklich aufregend!
Ulrike Almut Sandig: In Deutschland sind Literaturpreise oft die Gatekeeper in ein Leben von der Literatur. Das Gute ist, dass sie Autor*innen wie mich, die keine Bestseller schreiben, der Öffentlichkeit bekannt machen und auch mal über Durststrecken hinweg finanzieren. Problematisch daran ist oft die Frage, wie auf die Ausschreibungen aufmerksam gemacht wird, wer von ihnen mitbekommt und wer sich eine Bewerbung zutraut. Die Hürden sind selbst literarisch erfahrenen Slampoet*innen oft zu hoch.
Welches sind die Stärken der deutschen / rumänischen Gegenwartsliteratur? Welche Möglichkeiten hat man zur Verfügung, um das Interesse an der eigenen Literatur zu steigern und gute Beziehungen auf literarischer Ebene zu pflegen?
Ioana Nicolaie: Die rumänische Literatur ist lebhaft und vielfältig. Jedes Jahr erscheinen bemerkenswerte Bücher. Wir haben starke Lyrik, aber auch Prosa, die in den gängigen Weltsprachen gelesen werden sollte, es lohnt sich. Leider wird zu wenig und zu beliebig übersetzt, denn die rumänischen Autoren werden von keinen Institutionen vertreten. Das Rumänische Kulturinstitut ist unter politischer Leitung, was dazu beiträgt, dass es alles anderem dient außer der Förderung einer lebendigen, konkurrenzfähigen Literatur. Hinzu kommt, dass wir im Gegensatz zu anderen Kulturen nicht über Literaturagenten verfügen. Wenn heute ein hervorragendes Buch veröffentlicht werden würde, würden nur wir davon wissen, es könnte nicht in anderen Sprachen gelesen werden und wäre im besten Falle nach einem Jahrzent in wer weiß was für einem Nischenverlag veröffentlicht worden.
Ulrike Almut Sandig: In deutscher Sprache zu schreiben ist nicht möglich, ohne die dunkelsten Flecken in der deutschen Geschichte wie Shoah, deutsche Kolonialgeschichte oder Teile unserer Kirchengeschichte mitzudenken. Da wächst bei uns eine Erinnerungskultur, die ich in anderen Ländern schmerzlich vermisse. Dass wir wichtige Themen immer noch nicht begriffen haben, wie die anhaltende Bedeutung des Stalinismus in Russland und die Rolle Deutschlands in seiner Nicht-Aufarbeitung, lernen wir jetzt unter Schmerzen, aber wir lernen es. Auch die Tatsache, dass die deutsche Literaturszene sich mehr und mehr von dem Missverständnis verabschiedet, deutsche Literatur könne nur von Deutschstämmigen produziert werden, nehme ich als eine große Bereicherung wahr. Und nicht zuletzt: gute deutsche Übersetzung aus kleinen Sprachen schreiben und sogar veröffentlichen, das gelingt besser und besser.
Gibt es eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller aus Rumänien / Deutschland, mit dem Sie sich verbunden fühlen?
Ioana Nicolaie: Ich bedauere, dass ich die jungen deutschen Schriftsteller nicht lesen kann. Diejenigen, die gerade aktuell sind, wurden noch nicht ins Rumänische übersetzt. Deshalb denke ich an Aglaja Veteranyi, die man mittlerweile als eine deutsche Klassikerin betrachten kann. Sie hat zwei wunderbare Bücher mit poetischer Prosa geschrieben: De ce fierbe copilul în mămăligă/Warum das Kind in der Polenta kocht und Raftul cu ultimele suflări/Das Regal der letzten Atemzüge. Ich erwähne auch noch den Lyriker und Prosaschriftsteller Jan Koneffke. Als ich Eine Liebe am Tiber gelesen habe, dachte ich mir, eine derart anschauliche italienische Geschichte kann nur von jemandem geschrieben werden, der seine Kindheit in Rom verbracht hat oder aber von einem großen Schriftsteller. Da Jan Koneffke in Darmstadt großgeworden ist, bleibt nur die zweite Variante übrig. Cele șapte vieți ale lui Felix K/Die sieben Leben des Felix Kannmacher ist ein großartiges Buch, dessen Handlung in Rumänien in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen spielt. Die in der gnadenlosen Geschichte gefangenen Protagonisten sind fein ausdifferenziert, anziehend, glaubhaft und die Schreibweise ist einwandfrei.
Ulrike Almut Sandig: Oh ja! Nora Iuga, Alexandru Bulucz, Herta Müller, Mircea Eliade.
Sie haben die Grenzen der Literatur, des klassischen Schreibens an sich, durchbrochen und haben neue Formen ausprobiert. Auf welche Ressource haben Sie zurückgegriffen? Welches Ihrer Bücher hat am meisten zu Ihrer persönlichen Entwicklung und der Ihres literarischen Werdegangs beigetragen?
Ioana Nicolaie: Ich unterrichte, organisiere Schreibkurse und Workshops für Kinder, habe die Melior Stiftung gegründet und leite sie auch. Wir bemühen uns unter anderem, Schulbibliotheken mit Büchern zu versorgen. Ich habe ein Kind großgezogen, hatte verschiedene Arbeitsplätze usw., doch jedes meiner Bücher war eine Priorität für mich, egal ob es um Lyrik, Kinderbücher oder Romane ging. Jedes Buch war ein Kampf, weil ich nie aussreichend Zeit hatte. Vor allem habe ich in den Ferien geschrieben, weil ich nur dann zwei-drei freie Wochen am Stück hatte. In diesen Ferien werde ich leider nicht schreiben können. Und das empfinde ich als großen Schmerz.
Ulrike Almut Sandig: Viele meiner Texte wurzeln in der mündlichen Literatur, im Gesprochenen, Gesungenen, in der Volkserzählung. Aber auch Schriftliteratur, die mit diesem Erbe arbeitet, etwa einige Bücher der Bibel oder die Kinder- und Hausmärchen von Jakob und Wilhelm Grimm sind für mich Grundsteine meiner Arbeit.
Übersetzt von Manuela Klenke
Ioana Nicolaie: https://www.rciusa.info/post/ioana-nicolaie—life-anew-writers-imagine-the-world-after-the-pandemic
Ulrike Almut Sandig: http://ulrike-almut-sandig.de/