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#face2face: Lena Chilari und Yevgeniy Breyger

Im Jahr 1992 wurde in Bukarest zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien der Vertrag über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa unterzeichnet. Im Jahr 2022 initiiert DLITE Face2Face, eine Reihe von Gesprächen zwischen Schriftsteller:innen aus beiden Ländern, um die Entwicklung und die Vielfalt der zeitgenössischen Ausdrucksformen dieser Kulturen zu erforschen.

Schriftstellerinnen, Schriftsteller oder Schriftsteller:in? Wie stehen Sie zu den Diskussionen, die im Zuge der Bemühungen um die Gleichstellung der Geschlechter, insbesondere in der Kunst, entstanden sind? 

Lena Chilari: In meinem literarischen Umfeld ergaben sich viele Gespräche über die Gleichstellung der Geschlechter.  Die Kritik, der ich bei meiner letzten Lesung beim Nepotu lui Thoreau, ein Leseclub aus Cluj, ausgesetzt wurde, war männlicher Natur: Ich wurde ausdrücklich beleidigt ( „du bist wie eine langweilige Wichsnummer”), es wurde an mir und meiner Lyrik alles ausgesetzt (schwankende Stimme, rudimentäre Verse, ein agressiver Ton seitens der anderen, den ich akzeptieren sollte), es wurde ausdrücklich verlangt, dass ich entweder als Lyrikerin oder als Performerin auftrete. Diese unangenehme Erfahrung hat mir noch einmal gezeigt, mit was für direkten und spontanen Angriffen Lyrikerinnen aus Rumänien rechnen müßen. In der Republik Moldau wird es bestimmt nicht anders sein. Mit dieser Feindseligkeit gegenüber Lyrikerinnen und Schriftstellerinnen, vor allem jüngeren Lyrikerinnen (die sich durch Sprachzensur im Falle der Gedichte von Anastasia Gavrilovici und Cătălina Stanislav geäußert hat) bin ich überhaupt nicht einverstanden. Und vor allem nicht mit der Feindseligkeit zwischen jungen Lyrikerinnen unter sich. Wir befinden uns nicht in einer guten Position, wenn es um die Gleichstellung der Geschlechter geht und das ist tragisch.

Yevgeniy Breyger: Meine Position möchte ich niemandem aufdrängen, nutze selbst gern ausschließlich (und damit einschließlich) die weibliche Form – Schriftstellerinnen. In der weiblichen Form ist zumindest die männliche komplett enthalten, das scheint mir sowohl elegant als auch fair. Die Diskussionen, die darum entstanden sind, halte ich für sehr wichtig, um Aufmerksamkeiten auf lang unbeachtete Probleme zu lenken.

Kann man von Geschlechterdiskriminierung in der deutschen/rumänischen Literaturszene sprechen?

Lena Chilari: Ich bin stolz, dass die Lyrikerin Ileana Negrea, die im Jahr 2021 mit dem Nationalpreis Mihai-Eminescu -Opus Primum ausgezeichnet wurde, queer ist. Die Lyrikerin Cătălina Stanislav gehörte ebenfalls zu den Nominierten und ich bin enttäuscht, das die Aufnahme mit ihrer Lesung von der offiziellen Seite der Organisator:innen gelöscht wurde, nur, weil sie ein anstößiges Wort benutzt hat. So etwas ist inakzeptabel und absurd. Denn männliche Lyriker haben seit eh und je anstößige Wörter geschrieben und gelesen und niemand hatte ein Problem damit. Wenn es aber um eine Lyrikerin geht, vor allem um eine jüngere, dann haben alle etwas an ihr auszusetzen. Es gibt Diskriminierung, selbst wenn das Gegenteil behauptet wird. Diskriminierung wird es nur dann nicht mehr geben, wenn man den marginalen Stimmen breiten Zugang und Sichtbarkeit verschafft, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Sprache und Form der Lyrik.

Yevgeniy Breyger: Die Diskussionen der letzten Jahre scheinen viel Positives bewirkt zu haben. Es sieht aus, als würden sich die Geschlechterverhältnisse in der Literaturszene gerade umkehren, was nach dem bisherigen eindeutigen historischen Verlauf mit bewusstem Diskriminieren und Weghalten von weiblichen Stimmen aus der Aufmerksamkeitsökonomie des Literaturbetriebs in Deutschland nur zu begrüßen wäre.

Welche Bedeutung wird den Literaturpreisen eingeräumt?

Lena Chilari: Nach dem,  was 2021 im Rahmen der Verleihung des Nationalpreises Eminescu passiert ist, haben Literaturpreise überhaupt keine wesentliche Bedeutung mehr.

Yevgeniy Breyger: Verschiedene Literaturpreise gelten weiterhin und zurecht als Marker für tatsächliche literarische Fähigkeiten, wiederrum andere ehemals als wichtig wahrgenommene Preise verlieren an Bedeutung, diskreditieren sich selbst mit zweifelhaften Entscheidungen, neue Strukturen kommen auf – Ich denke, alles läuft, wie schon immer. Preise bleiben   ein wichtiges Mittel zur Finanzierung von Autorinnen in einem weiterhin geldarmen Sektor. So man mag, kann man darin Guidelines zu Literatur finden und Entdeckungen machen, wieso auch nicht.

Welches sind die Stärken der deutschen / rumänischen Gegenwartsliteratur? Welche Möglichkeiten hat man zur Verfügung, um das Interesse an der eigenen Literatur zu steigern und gute Beziehungen auf literarischer Ebene zu pflegen?

Lena Chilari: Ich finde, die rumänische und, in meinem Falle, moldawische Literatur, ist von einer noblen Miserabilität gekennzeichnet, die nur von rumänisch- und moldawischsprechenden Schriftsteller:innen kommen kann. Mit Lyrik verdient man kein Geld, und mit Prosa vielleicht auch nicht, was zu maximalem Frust und einem Wettbewerb zwischen Lyriker:innen und Schriftsteller:innen führt. Meiner Meinung nach ist das eine Stärke der Literatur. Etwas woran wir arbeiten könnten ist, wie zum Beispiel Deutschland es vormacht, Fonds ins Leben zu rufen, die das Schreiben fördern. Durch Erfahrungsaustausch könnte man neue Lyrik- und Literaturformen einführen, wie zum Beispiel Spoken Word, Lyrik, die in rumänischer Sprache noch nicht vorhanden ist (ganz anders sieht es im Falle der ungarischen Lyrik aus).

YevgeniyBreyger: Die größte Stärke der deutschen Gegenwartsliteratur scheint mir die Quantität an Stimmen zu sein. Vieles ist darin zu entdecken. Im Verhältnis zu den vorhandenen Mitteln ist man vor allem in Deutschland (da sollten Österreich und Schweiz unbedingt ausgeklammert werden) aber wie es aussieht doch etwas hinterher. Die Qualität der Vermittlungsarbeit und mit ihr der Stellenwert der Literatur scheinen mir in Rumänien beispielsweise ungleich größer zu sein. Vielleicht liegt das am zu schnellen Zufriedengeben mit Vorhandenem in Deutschland, mit dem Ausruhen und sich auf die eigene Größe Verlassen. Will man den Wert der eigenen Literatur überprüfen, sollte man wohl anfangen, Literatur in fremden Sprachen zu lesen, zu übersetzen und versuchen, daraus zu lernen. Da fehlt es hier oft an den nötigen Kenntnissen.

Gibt es eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller aus Rumänien / Deutschland, mit dem Sie sich verbunden fühlen?

Lena Chilari: In Hermann Hesses „Steppenwolf”, Michael Endes „Geschichte ohne Ende” und Bertolt Brechts Theaterstücke konnte ich mich hineinversetzen. Im zweiten Studienjahr habe ich „Die Klavierspielerin” gelesen. Geschrieben von der österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek. Die ganze Zeit habe ich mir gewünscht, einen ähnlichen Roman abzuliefern. Bislang habe ich es noch nicht geschafft.

Yevgeniy Breyger: Die Gedichte von Mircea Dinescu begleiten mich schon sehr lang und der Roman „Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte“ von Tatiana Țîbuleac hat mir überaus gefallen. Generell kann ich mich oft darauf verlassen, dass rumänische Literatur in der deutschen Übersetzung von Ernest Wichner mir gefällt.

Sie haben die Grenzen der Literatur, des klassischen Schreibens an sich, durchbrochen und haben neue Formen ausprobiert. Auf welche Ressource haben Sie zurückgegriffen? Welches Ihrer Bücher hat am meisten zu Ihrer persönlichen Entwicklung und der Ihres literarischen Werdegangs beigetragen? 

Lena Chilari: Der Veröffentlichung meines Debütbands in 2020 folgte ein Jahr voller Lesungen und lyrischer Fertilität. Habe viel geschrieben, dabei mich wiederholt und abgenutzt. Denn ich schrieb über die gleichen Themen, die ich bereits aufgearbeitet hatte. Schreiben hält mich am Leben. Was dabei in mir passiert, mit dem was ich zu einer bestimmten Zeit dadurch bin, es ist wohl  kathartisch. Ich habe eine Pause eingelegt, in der ich nur pragmatisch, nicht poetisch, gearbeitet habe. In den letzten Tagen habe ich, nach zwei Monaten, einige zusammenhängende Gedichte geschrieben, da war ich nicht mehr die Lyrikerin, die das Debütband geschrieben hatte. Der scharfe, unterdrückte, männliche Ton hat sich aufgelöst, dafür zeigt sich aber eine primitive Form von Neorealismus, die ich schon immer angestrebt habe, so wie in der japanischen Literatur, die ich verschlinge. Banales, Alltagslangeweile und das Bild einer Identitätshöhle, in der sich die blinde Lyrikerin versteckt, die den Platz der Helena mit Goldaugen eingenommen hat. Die Gedichte aus dem Band waren nach Außen gerichtet, Rufe in Richtung eines fernen Horizonts, alle gleich, so wie es auch meine öffentlichen Lesungen waren (einige kann man auf meinem YouTube-Kanal sehen). Die aktuellen  Gedichte beschreiben, mit einem auf den Boden gerichteten Blick, das was vor meiner Nase passiert. Diese lyrische Phase ist ungewöhnlich, ich hoffe sie wird genauso einschlagen, wie meine erste und bislang einzige persönliche, lyrische Phase von mir.

Yevgeniy Breyger: Das Schöne ist ja, die Grenzen der Literatur und klassische Formen werden bereits so lang gebrochen, wie es Literatur gibt. Auf diese zahlreichen Brüche, die die Literatur seit Jahrtausenden(!) weiterbringen habe auch ich mich gern verlassen. Auf das Gelesene von Lukrez über Sibylla Schwarz zu ganz aktuellen großartigen Stimmen. Je     mehr ich lese, desto freier fühle ich mich im eigenen Schreiben. Von meinen Büchern hat in diesem Sinne sicherlich mein zweiter Gedichtband „Gestohlene Luft“ am meisten zu meiner persönlichen Entwicklung beigetragen, da ich erst darin gelernt habe, mich von den eigenen Vorstellungen davon, was Literatur soll zu lösen und ganz auf die   innere Stimme zu hören, dem zu vertrauen, was sich anbietet und nach außen strebt.

Lena Chilari: https://www.icr.ro/bucuresti/eunic-poeta-lena-chilari-la-festivalul-de-poezie-scandata-spokenword
Yevgeniy Breyger: https://de.wikipedia.org/wiki/Yevgeniy_Breyger

Übersetzt von Manuela Klenke

Andra Rotaru
Andra Rotaru
Andra Rotaru (n. 1980) a realizat proiecte la intersecția dintre arte: performance-ul de dans Lemur, prezentat de coregraful Robert Tyree în America și în Europa; documentarul All Together, realizat în cadrul rezidenței The International Writing Program (Universitatea din Iowa, 2014); Photo-letter pairing (fotografie, proiect realizat în colaborare cu numeroși artiști și cu comunitatea din Iowa). Volume publicate: Într-un pat, sub cearșaful alb (2005), Ținuturile sudului (2010); Lemur (2012); Tribar (2018). Lemur a primit premiul „Tânărul poet al anului”, în cadrul Galei Tinerilor Scriitori (2013). Volumul de debut a fost tradus in spaniolă (En una cama bajo la sábana blanca, editura Bassarai, 2008). În 2018, Lemur a apărut la editura americană Action Books (traducere de Florin Bican). Volumul Tribar a apărut în Germania, la ELIF VERLAG, în traducerea lui Alexandru Bulucz (2022). De asemenea, a apărut în SUA, la Saturnalia Books, traducere de Anca Roncea (2022).

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