2. Berührungen jeder Art
Es ist leicht einzusehen, daß man auch auf die unscheinbarsten Dinge eifersüchtig sein kann, die mit einer bestimmten Person zu tun haben. So natürlich in erster Linie auf andere Personen, die mit der bestimmten Person in Verbindung stehen, wie es heißt, die ihr also vielleicht die Hand geben oder sie sogar in den Arm nehmen bei Begrüßungen, da möchte man dann diese Hand oder dieser Arm sein, damit die andere Person nicht in Kontakt mit der Haut kommt, die man selber statt dessen berühren möchte. Es geht um Berührungen jeder Art.
Berührungen jeder Art, weil ich ihren Körper nicht kenne, aber ihre Stimme, ich habe sie sprechen gehört, wenn auch nicht im Gespräch mit mir, sondern mit irgend jemand anderem, an den ich mich nicht mehr erinnere. Kennt sie denn meine Stimme, wie viele Stimmen hat ein Mensch, daß er sich anschleichen kann, das erste Wort, die Stellung der Sprechwerkzeuge beim ersten Wort ist bestimmend für die eigene Stimme im weiteren Gespräch, ohne daß sie sich immer ändern ließe, zum Beispiel, um Wendungen im Gespräch möglich zu machen. Oder es ist auch möglich, durch Einsetzen der eigenen Stimme die des anderen zu beeinflussen, ich spreche jetzt so, also muß sie so sprechen, sich darauf einlassen oder etwas anderes tun, das Gespräch lenken durch Stimmeneinsatz.
Darüber hinaus gibt es auch Gegenstände, deren Gestalt man annehmen möchte, um in der Nähe der Person zu sein: ein Stuhl, auf dem sie sitzt, die Kleidung vielleicht an ihrem Körper, um so sich den Formen ihres Körpers anzuschmiegen und Bewegungen gemeinsam auszuführen. Ein Glas, das sie mit der Hand umfaßt und an die Lippen nimmt, vielleicht mit der Zunge berührt, wenn sie versucht, ein Stück Zitrone ins Glas zurückfallen zu lassen. Ein Getränk im Glas, um in ihren Mundraum zu gelangen. Dort würde dann bereits mit der Verdauung begonnen, man selber zersetzte sich in kleinere Bestandteile, verursacht durch die Enzyme der Person, der man nahe sein wollte. Vermischt mit ihrem Speichel sähe man sich das Innere des Mundraums an, wenn es nicht zu dunkel wäre. Von der Zunge weiter in Richtung Rachen befördert, gelangte man durch die Speiseröhre (an der Luftröhre vorbei, wo sich der Kehlkopf befindet) hinab in den Magen, man sähe die Person von innen, hätte gleichzeitig Hautkontakt mit ihr, könnte also vollauf zufrieden sein, obwohl man sich in Auflösung befände aufgrund erneuter Zugriffe von Enzymen, um bald sich mit anderer Nahrung (vielleicht auch verwandelten Eifersüchtigen?) im Magen zu sammeln. So hätte man sich von der Person wortwörtlich einverleiben lassen, um in Bereiche zu gelangen, die man sonst nie sehen, nie berühren könnte.
Wie Menschenfressers Lockruf: sie mir einverleiben durch mein Sprechen, mit meinen Worten ihre Worte hervorlocken, sie in die Falle gehen lassen, ich sage etwas, und sobald sie antwortet, kenne ich ihre Stimme, dann kommt das Menschenfleisch zum Vorschein, ihre Zunge.
Es verbleiben im Magen: zehn Minuten: Honig. Ein bis zwei Stunden: Fleischbrühe und Getränke. Drei Stunden: Milch, Eier, Kartoffeln. Sechs Stunden: Spinat, Äpfel, Huhn. K. steht mir gegenüber auf den Getränkestand gestützt, das Holz des Tisches berührt ihre Ellenbogen, vielleicht lehnt auch ihre Hüfte daran, ihr Knie, und sonst berührt niemand sie im Moment. Also müßte ich das Holz sein dort drüben, in Hautkontakt.
Ein Fetzen Haut löst sich ab, fällt zu Boden, oder er bleibt an einer Kante hängen, wo sie sich gestoßen hat, so daß man dieser Schrank sein möchte: André Breton fragt: da Sie von der Beziehung der Haut zu dem Darunter sprechen, glauben Sie nicht, daß es Anlass gibt, den Kosmetikern zu mißtrauen?
(…)
Auf dem Bett sitzen, ich sehe sie ins Badetuch gehüllt im Zimmer stehen: nach den Zitronen fassen, rauhe Schale unter den Fingern spüren, Umschlagen eines Bildes, die Haut zieht sich zusammen, unser unaufhörlicher Spracherwerb aneinander. Wir unterhalten uns nur noch mit Hilfe geheimer Zeichen, auch Zeichnungen, suchen Körperstellen im Text: oder wie sollen wir dem unerklärlichen Drang entgehen, immer möglichst verständlich zu sprechen, fragt sie, uns anderen verständlich zu machen, immer von neuem mit den Sprechübungen zu beginnen, die Zunge an die Lippen zu setzen, alles was wir so mitgelernt haben, vorüberschwirrendes Wortgeräusch. Wie bewegt sich deine Zunge, wie hältst du die Zunge bei diesem oder jenem Wort, zeig es mir, daß ich es nachmache, zeig es mir, daß ich verstehe, was du sagen willst. Losgebundenes Muskelstück, Mundinhalt in Flattern begriffen, rotverzerrtes Menschenkind: ich erkenne die jeweilige Sprache an deinem Speichel. Aktivierung der entlegensten Bereiche, um eine Übereinstimmung zwischen zu Verstehendem und Verstandenem wenigstens anzudeuten, du schmeckst wie deine Sprache. Im Besitz aller Sinne der fremden Zunge nacheifern, nachfahren, und was haben die Lippen zu tun, mit dem Finger tasten wie ein Blinder beim Erlernen von Mundbewegungen, Edison spricht auf die Walze des von ihm erfundenen Phonographen: A LITTLE BIT OF PRACTICAL POETRY, ein bißchen angewandte Poesie, wie soll das laufen, wahrscheinlich einfach nur reden, ich spüre ihren Atem auf der Haut, wenn sie in meiner Nähe spricht.
Textauszug aus: Marcel Beyer, Das Menschenfleisch. Roman. © Suhrkamp Verlag