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„Paul Celan 100: Poetische Begegnungen“

Das Projekt bietet dem internationalen Publikum eine Hommage an Paul Celan, wobei zeitgenössische Schriftsteller*innen in den Dialog mit seiner Lyrik treten. Seit Paul Celans Geburt vor 100 Jahren sind Sprachdynamik, Stile und Wahrnehmungen in ständiger Veränderung und Neugestaltung. Das gesellschaftliche Klima hat sich verändert, individuelle Freiheiten haben ganz neue Ebenen erreicht. Wir stellen uns deshalb heute die Frage, ob es etwas gibt, was unverändert geblieben ist, und was sich wesentlich verändert hat? Auf welche Art kann Celans Lyrik, die in einem spezifischen historischen Kontext entstanden ist in einen Dialog mit den Realitäten, Sprachen und Perspektiven unserer Zeit treten?

Aus dem Rumänischen von Manuela Klenke

Anastasia Gavrilovici
 
Schlaf und Vergessenheit
 
Und da war ein Regen wie ein Zähneschauer auf einem Tablett aus eingeschmolzenem Gold
und feindliche Rettungswagen verbreiteten Schlacke und Grauen auf der Straße
ihre sind die Satansmachenschaften der Uhr, das Herz – ein zögerndes Tier,
die Sanduhren des Blutes, die Vorfahrt im Straßenverkehr.
Und da war noch ein Haus voller Porzellanfiguren und Tässchen und unermüdlichen
Bohrmaschinen der Nachbarn, wie aus dem Styx entsprungen, und die Einsamkeit
die alle aneinanderreihte wie Zahnstocher und am Fenster selbst
das Trojanische Pferd des Irrsinns Konfetti spuckend in mein Blut, das zu einem
Häufchen vor deinen Füßen wird, oh Herr, und da war noch die Angst, dass ich
in dieser Nacht, oh, ja, genau in dieser Nacht, ankommen werde, am
Ende des Internets.
Auf einer Autobahn im Weizenfeld – deinem Herzen – geleitet von einen Blitz
rasen wir in Richtung Meer dahin und dein Mund ist eine feststeckende Frucht im Stacheldraht
des Wortes wie die der Stacheln einer Plastikrose, die noch in manchen
Häuser auf dem Land zu finden sind.
Wir alle sind ein Schauer und traurige schaudernde Worte, heiser vorgetragen
vor einem Mikrofon von einem MC aus Deutschland eingetroffen zum Einbruch der Nacht
wie Guillotinen der Finsternis.
Und wer sein Herz aus der Brust in so eine Nacht hineinwirft,
wie eine Münze in einen Brunnen, der Wünsche erfüllt
dem sind Spott und Gelächter sicher sowie die Vögel zum Aufziehen
als auch der gute Wein, der von Schlaf und Vergessenheit sprudelt.
 

Teodor Dună
 
leere
 
ich lief leer und unfassbar
einfach durch ein oleander
perlen oder zinnoberfeld. trug vertrocknete wunden
und armbänder aus geronnenem blut.
ich kam zweifellos voran
unter dem mit alabaster eingewachsten himmel
und nichts konnte trüben die leere
in mir.
 
und wie ich durch die felder gleite, treffe ich
in einem stacheldrahtnest, neben einer goldenen, zerbrochenen zimbel
eine verlorene, geliebte, und sehr verlorene frau.
„wer sein herz aus der brust reißt zur nacht,
der langt nach der rose” sage oder schweige ich.
„ab jetzt können wir alles ohne schmerz ertragen”, sagt
oder schweigt sie.
 
wir wundern uns, soweit möglich, über unser weißes treffen,
erinnern uns an das wachsen der nägel
an den geruch der uhr nach zerlegtem fleisch
an die tüten mit vermengter luft (und andere kleinigkeiten des lebens)
 
wir erinnern uns, soweit möglich,
an die verlosung
der folterinstrumente
und schauen einander an, als wären wir nicht verloren oder sehr verloren.
 
wir schweigen und wissen: mit größeren und schwereren steinen
hätten wir nicht spielen können.
unter unseren ausgerissenen herzen, schwiegen wir und wussten
 
dass ich nicht stehen bleiben konnte. ich musste
wieder laufen, leer und unendlich
einfach, unter dem mit alabaster eingewachsten himmel, andauernd,
durch das feld aus granit oder zinn
und nichts sollte trüben die leere
in mir.
 
ohne dass es überhaupt noch zählt
wo ich ankam und warum
so leer.
 
Miruna Vlada
 
die stimmen
 
ein laut, direkt aus dem kehlkopf
schwarz und eindringlich
auf deutsch auf rumänisch auf russisch auf ukrainisch
spätholz frühholz
auf jiddisch auf französisch
 
1948 ist orwells jahr oder das jahr der betagtheit
in dem sich selten das licht zeigt
ein schrei der durch den kehlkopf rollt, wie ein zirkusakrobat
die hilfslosigkeit der eizellen von sinkenden
treibend auf dem grün der zerkratzen seine
 
kehlkopf der mutter, kehlkopf noahs, kehlkopf der mörder
verstrichene posttraumatische störung, du bist die einzige, die mich noch bewohnt
 
sprache, ich werde dich schinden, ich werde dich klein hacken
zerteilen im rachen, zu schotter brechen durch einen laut, den ich formte
 
1970 ist das jahr, in dem der schwimmlehrer dich lehrt
die substitution,
die aneinanderreihung,
das anagramm,
die polysemie,
die homonymie
und, für die meist gravierenden fälle,
vielleicht sogar die homofonie.
 
„ein körper, erschöpft in wasserumspülter Ruh”
sind nur die münder gerettet worden?
 
nachtdurchwachsener laut, gesammelt entwurzelt, samt disteln in den gedrückten vokalen
nun findet das sezieren einer gerupften landkarte statt
die poesie ist zwangsarbeit
 
auf der gebräunten haut ist keine stelle frei von narben
wer kann schon vernarbungen gebrauchen
 
die schönheit pocht
konvulsiv
in den arterien
hier bleibt jeder
eingesperrt
mit seinem tod im
kehlkopf
 
 
 
Robert G. Elekes
 
I
 
atemzüge
wenn die hand zum gesicht geht
weil du dir an den nägeln kaust
stirbt ein engel im himmel
sagte mir meine mutter als ich klein war
und sie lügte
 
atemzüge
aus dem mund von jemand anderem
das bild eines bauchnabels in den man
pustet damit er dieses geräusch erzeugt
von einer bombe die kleiner ist als eine ameise
wer dir früher nahe stand
ist jetzt nur ein profilbild
oder noch schlimmer
ein abzug in der schublade
 
atemzüge
kommt mit dreckigen händen auf mich zu
denn ich bin alleine
und ich kann nichts anderes mehr lesen außer euch
ich kann nicht einmal mich selbst schreiben
und alle meine stimmen haben die prüfung der nacht bestanden
und trotzdem weigern sich meine haare aufzuhören zu wachsen
 
wo doch die welt sich um dich herum bildet
wenn du an eine mutter denkst die in einem
zeitungkiosk arbeitet
und täglich in den spion flüstert
wie in eine zaubermuschel
süße wörter
um nicht alleine zu sein
 
atemzüge
verschluckt im laufenden schrei
ein tanz mit dem kissen
das man im schlaf sabbert
in abwesenheit eines körpers
 
die tränen seien wir mal ehrlich
welche rolle spielen sie jetzt noch?
es gibt keine stimme
die man nicht laut genug hört
um sie nicht zu ignorieren
 
atemzüge
gestalten die stille gestalten die narben
gestalten das unangepasste universum
celans
das in fortlaufender angst ausgesprochene wort
das in fortlaufender hoffnung ausgesprochene wort
das vertrauen dass die
seine uns retten wird
vor allen ufern die
uns nicht mehr haben wollen
 
 
 
 
Cătălina Matei
SELBDRITT, SELBVIERT
 
ab und zu packen manche
hier mit den zähnen zu
 
nachdem du samt hund fortgegangen bist
habe ich mir eine katze geholt.
wir weilen auf der bank,
vor dem Haus hier, vor dem Hause
wir versuchen unsere tiere miteinander anzufreunden
damit sie in gemeinschaft leben können
wenn du ihn mal wieder hier lässt.

Diese Stunde, deine Stunde,
ihr Gespräch mit meinem Munde.
über eine hundeschule
 
die strategie lautet
du hältst ihn an der leine ich sie in den armen
bis sie einander gleichgültig sind
doch du stehst auf, gehst ins bad
ich erstarre mit der katze auf dem schoß
jede meiner oder ihrer gesten
würde den jaghund aufhetzen
ob hunde auch wohl hass verspüren?
 
Krauseminze, Minze, krause,
vor dem Hause hier, vor dem Hause.

wenn ich den eindruck habe, dass bei mir nichts mehr läuft
trage ich gedichte vor
Mit dem Mund, mit seinem Schweigen,
mit den Worten, die sich weigern.

Mit den Weiten, mit den Engen,
mit den nahen Untergängen.

durst, ich habe durst bekommen
nur dein wasser war in der nähe
ich wollte deinen geschmack nicht spüren
fing an alles vertrocknete auszuhusten
habe den deckel langsam aufgedreht
den flaschenmund
berührt
mit meinem mund deinem mund ihrem mund
 
Mit mir einem, mit uns dreien,
halb gebunden, halb im Freien.

das alles in einem lautlosen grauen
die zähne deines hundes aber
haben die haut meiner katze nicht angerührt
 
Krauseminze, Minze, krause,
vor dem Hause hier, vor dem Hause.
wenn ich den eindruck habe, dass bei mir nichts mehr läuft
trage ich mir selbst im gedanken gedichte vor
 
 
 
 
Robert Prosser
 
Die Natur und ein Dialog
mit ihr falsch gelaufen nur Echo
macht die Melodie macht die Botanik
um zu zimmern zu gittern zu werfen
als wäre es so einfach trotz der Verflechtungen
der Spiegel heimlich und vergraben in der Erde oder
Schatten im Blattwerk sind sie
ein Flimmern und Zittern und Herzen von Schneeengeln (verliebte Aufforstung)
spüren wie’s lebt unter den Füßen wie’s wächst bis in Eiszapfen
Kälte setzt ins Wasserrauschen einen Trommelschlag Endakkord
das Eis hängt von Ästen ins Wasser Winterkonzentration gleitet in Glieder
und alles ist ein Tabubruch ist ein Hermaphrodit:
Klau und spritze, sitze, sause
flüchtig ist nicht die Welt nur ihre Wahrnehmung jagt
übern Bachschwall zwischen Wildfang und Rehkitz
hause als Brücke das Rauschen
zu verstehen die Wellen zu zählen
still zu sein allein
aus Kehlen Federn spucken den Bach spalten
zu doppelt züngelnder Gischt
die Rede von Aufbruch von Flucht und Abenteuer
behutsam in die Hand zu nehmen
hol das feinste Stimmchen raus
das Kra im Schnabel das Zsch im Maul im Blatt das Hm im Stamm
breche Natur und Erscheinung
ihre Deutung bekommt Risse
eins Ich zwei Du drei Wir
Zwitschern auf der Handfläche
 
Alexandra Turcu
 
chanson einer dame im schatten
nach einem gedicht von celan
 
 
ich kuschele mich in die mulde, die dein hintern auf der matratze hinterlässt. beiße
die zähne zusammen
wer zuerst ans fenster tritt, der verliert.
 
alle dinge unseres gemeinsamen lebens aneinandergereiht im schneckenhaus aus der 6.
die, die ich in ein neues haus transplantiere, nehmen langsam eine andere bedeutung an
die anderen werde ich verlieren.
wer behält die ungewaschenen teller aus der spülle?
wer behält den tag, an dem wir an der landstraße haselnüsse geknackt haben,
die mit so viel zuversicht für uns beide signierten bücher?
wer behält die vom stechenden alkoholgeruch durchdrungenen nächte
und die morgende danach?
wer zuerst ans fenster tritt, der verliert.
 
mehr als 6 monate sind bereits vergangen
seitdem wir uns insgeheim fragen
wer von uns als erster zurückblicken wird
zu dem ehemalig heiteren himmel
zu allen frauen und männern, die in den hintersten
ecken unseres verstandes darauf warten
die 3 schmerzlich lauwarmen gemeinsamen jahre rasch abzulösen
so wie eine duftende badebombe
die gezielt ins brennend heiße wasser geworfen wird.
 
wer zuerst ans fenster tritt, verliert.
 
 
 
Dan Coman
 
CHANSON EINES HERREN IM LICHT
 
4 AM, der erste Kaffee. Wenn das Gedächtnis eintrifft und sein trockenes Saatgut ausstreut:
Was bleibt verdeckt? Wer wiedersteht der Verschwendung? Wer wird es als Erster riskieren
und sich dem glühenden Licht des Bildschirms nähern?
 
(du bist eine umwerfende Frau,
aber nicht Schönheit interessiert mich jetzt)
 
(es ist vergeblich, absolut vergeblich.
tritt nicht mehr ans Fenster)
 
4.07 AM. Ein Oktobervormittag, an dem die Luft plötzlich erschöpt ist–
und der Sauerstoff in die Leere stürzt wie Putz von der Wand.
Ein perfekter Vormittag für das metallische Insekt. Für die gepixelte Nähe
der Fremden auf Instagram.
Für deine Haare, die nicht wegfliegen mögen, die wie eine Katze im Nachrichtenverlauf
bei Whats App rumhängen (nenne ihren Namen nicht) (auf den Bildern
hört man dein Lachen so klar wie es nur geht). (doch wer wiedersteht der Verschwendung?
Wer wird sich als Letzter losreißen und uns von der Liste streichen?)
Die Kuh des Herrn, des Herrn Allzweckvertreter der Partei.
 
(es ist vergeblich, absolut vergeblich.
tritt nicht mehr ans Fenster)
 
4.20 AM. Ich bereite den zweiten Kaffee zu. Und sage dir:
niemand gewinnt, niemand wird Verluste erleiden (doch du,
du wirst nicht) (und du,
du nenne ihren Namen nicht).
Eine metallische Libelle, ein Accessoire, erschienen aus heiterem Himmel
an den Rändern der verblassten Welt gammelnd.
Ein kalter Morgen, an dem das Gedächtnis eintrifft
und sein Saatgut ausstreut:
 
es ist vergeblich, absolut vergeblich.

* Mehr Informationen unter: Goethe-Institut București und DLITE
 
 
 

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