Schriftstellerinnen, Schriftsteller oder Schriftsteller:in? Wie stehen Sie zu den Diskussionen, die im Zuge der Bemühungen um die Gleichstellung der Geschlechter, insbesondere in der Kunst, entstanden sind?
Anja Utler: Prinzipiell gefällt es mir, wenn alle Menschen einer Gruppe in einem Wort Platz haben. Mit dem ‚generischen Maskulinum‘ bietet das Deutsche solche inkludierenden Wörter. Leider erzeugen sie oft die Vorstellung einer rein männlich-weißen Gruppe, z.B. bei „die jungen Richter“. Das Bild im Kopf speist sich aus alten Machtverhältnissen. Berufsbezeichnungen, die ja auch Wegweiser sind, sind davon besonders betroffen. Deshalb scheint es mir richtig, die Sprachgewohnheiten etwas zu stören. Beim Wort „Richter:innen“ flirrt das entstehende Bild. Wie sehr Sprache und gesellschaftliche Realität wechselwirken, zeigen im Deutschen übrigens auch die geläufigen Bezeichnungen für Berufe mit geringem Status, oft sind sie, wie z.B. „Putzfrau“, weiblich.
Simona Popescu: Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Wichtig ist, dass sie gut schreiben. Debatten sind immer willkommen. Bücher haben allerdings kein Geschlecht. Es ist anspruchsvoller, … bunter. Was zählt ist, dass in einem Buch ein echter Mensch enthalten ist. Wertvoll. Der Mensch, das Buch. Das ist es.
Kann man von Geschlechterdiskriminierung in der deutschen/rumänischen Literaturszene sprechen?
Anja Utler: Ja, aber die Situation ist beweglich und sie verbessert sich. Es gibt viele klare, laute weibliche Stimmen. Ich sehe aber ein Problem bei der Rezeption. Texte, denen Relevanz für die gesamte Gesellschaft zugesprochen wird, stammen oft von männlichen Autoren aus dominanten Schichten. Autor:innen anderer Gruppen werden dagegen als ‚partikular‘ entworfen und so rezipiert, als würden sie nur ‚für sich‘ sprechen. Das aber ist ein problematisch verengtes, im Grunde antiaufklärerisches Literaturverständnis, das den gesellschaftlichen Diskurs simplifiziert und in seiner Entwicklung bremst. Immerhin hat jede Literatur, die diesen Namen verdient, die Fähigkeit, spezifische Konstellationen so zu gestalten, dass ihre Bedeutung für jede Person bedenkbar wird.
Welche Bedeutung wird den Literaturpreisen eingeräumt?
Anja Utler: Literaturpreise tragen für einige deutschsprachige Autor:innen zum Einkommen bei. Leider gibt es einen Kumulationseffekt: Autor:innen, die bereits diverse Preise bekommen haben, ziehen weitere Auszeichnungen an, andere gehen auf Dauer leer aus. Diese begünstigten Personen sind übrigens nicht nur, aber überdurchschnittlich oft männlich-weiß. Preise erfüllen überdies kaum noch die eigentlich wichtige Funktion, Werke einem breiteren Publikum vorzustellen und damit die Diskussion anzuregen. Das liegt auch daran, dass die Berichterstattung oft nicht mehr bestimmten Auszeichnungen und deren Begründungen folgt, sondern sich auf einzelne Personen fokussiert.
Simona Popescu: Preise vergehen, Bücher bleiben. Ein Preis bringt uns nicht dazu, besser zu schreiben.
Welches sind die Stärken der deutschen / rumänischen Gegenwartsliteratur? Welche Möglichkeiten hat man zur Verfügung, um das Interesse an der eigenen Literatur zu steigern und gute Beziehungen auf literarischer Ebene zu pflegen?
Anja Utler: Mir fällt in den letzten Jahren auf, dass die deutschsprachige Literatur pluraler wird – ungeachtet all der genannten Effekte. Noch vor wenigen Jahren wurde klammheimlich eine präskriptive Ästhetik vorausgesetzt, mittlerweile ist die Diversitätstoleranz gewachsen. Es existiert ein großer Reichtum an Ansätzen, vor allem die Lyrik ist enorm dynamisch und vital. Das hängt vielleicht auch mit dem zunehmenden Respekt zusammen, mit dem die Autor:innen einander begegnen. Die Konkurrenz scheint langsam einem Paradigma der Kooperation zu weichen. Und das wäre für mich die beste Werbung für Literatur: wenn unübersehbar wird, dass es den Autor:innen um mehr geht als um ihre eigene Nasenspitze; wenn es eine lebhafte thematische und ästhetische Auseinandersetzung gibt, die mit Neugier und Leidenschaft, respektvoll und synergetisch geführt wird.
Simona Popescu: Die Stärke einer Kultur beruht auf der Persönlichkeit (und den Persönlichkeiten) dahinter. Auf ihrer Originalität. Ich glaube an Originalität. Und an Neues. Seltsam, – mich wundert es – dass es in Rumänien so wenige Übersetzungen deutscher Schriftstellerinnen und -schriftsteller der Gegenwart gibt. In den 1990er Jahren, direkt nachdem wir aus dem kollektiven Gefängnis der kommunistischen Diktatur entkommen sind, habe ich eifrig nach den Büchern von Autorinnen und Autoren meiner Generation aus anderen Ländern gesucht. Zu den ersten deutschen Schriftstellern, die ich entdeckt habe, gehörte Durs Grünbein. Sein Buch „Falten und Fallen” habe ich von einem Freund bekommen (und meine Schwiegermutter, die der deutschen Sprache mächtig war, gebeten, für mich zu übersetzen; manches habe ich selbst verstanden). Damals habe ich ein Essay geschrieben, mit dem Titel „OKAPI” und darin ein Wort von dort benutzt. Das Essay ging um den Osten und den Westen, obwohl ich nicht an Himmelsrichtungen glaube, wenn es um Literatur geht. 2002 war ich in Berlin. Ein französischer Lyriker meines Alters sagte mir, dass Grünbein ein Buch über Insekten geschrieben haben soll! Ob es stimmt, weiß ich nicht. Ich habe ein Gedicht von ihm über eine Libelle gefunden. Und ich würde gerne „Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop” lesen. Mir ist bekannt, dass er auch ein gesellschaftskritischer Lyriker ist. Vor vielen Jahren, als ich Artikel über ihn im Internet gefunden habe, stellte ich fest, dass er zu den Lyriker:innen gehört, die Literatur auch in theoretischen Begrifflichkeiten durchdenken, wenn ich das so sagen darf. Das hat mir gefallen. Und er hat auch ein langes Poem über 144 Seiten, im Alexandriner Versmaß geschrieben, „Im Schnee“ betitelt. Das habe ich auch versucht, es ist schwer mit diesem Versmaß zu arbeiten! Wie er wohl damit klargekommen ist, frage ich mich. Lange Poeme habe ich geschrieben, eines über 300 Seiten sogar. Auch Ursula Krechels komplexe Lyrik würde ich gerne lesen. Oder Gerhard Falkners Buch „Hölderlin Reparatur“. Ich mag den Titel. Jan Wagner mit seinen „Regentonnenvariationen” würde ich ebenfalls gerne lesen, wenn das, was ich irgendwo gelesen habe, stimmt: “this volume of poetry takes us into nature with all its artful variations of life”. Als Autorin des Buches „Cărții plantelor și animalelor” („Das Buch der Pflanzen und Tiere) interessiert mich natürlich sein Buch. Und Ann Cotton, wenn ihre Lyrik tatsächlich “a wild, hermetic provocation” ist.
Gibt es eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller aus Rumänien / Deutschland, mit dem Sie sich verbunden fühlen?
Anja Utler: Vor vielen Jahren habe ich bei einer Übersetzungswerkstatt im Berliner Haus für Poesie Nora Iuga kennengelernt. Beim Kontakt mit ihrer Lyrik habe ich mich gefühlt, als würde ein Blitz erst in mich einschlagen und mich dann mit spitzen Fingern sorgfältig durchgehen.
Simona Popescu: Den oben Erwähnten würde ich mich nah fühlen, denke ich. Und bestimmt auch noch anderen, aufgrund der Experimentierfreudigkeit oder der gemeinsamen Themen usw. Vor vielen Jahren habe ich Ulrike Dresner kennengelernt. Wir waren beide sehr jung. Damals haben wir einige Ähnlichkeiten zwischen uns entdeckt. Und 2002 tauschte ich mich im Rahmen eines internationalen Projekts, Das Literarische Tandem (daraus ist sogar ein Buch erschienen), mit David Wagner, einem jungen Schriftsteller aus. Ich hätte ihn gerne auf Rumänisch gelesen. Zumindest das Buch „Spricht das Kind”. Von den deutschen Schriftsteller:innen fühle ich mich am meisten verbunden mit Herta Müller. Von den anderen, wunderbaren Klassikern der deutschen Literatur habe ich mehrere auf meiner Liste.
Sie haben die Grenzen der Literatur, des klassischen Schreibens an sich, durchbrochen und haben neue Formen ausprobiert. Auf welche Ressource haben Sie zurückgegriffen? Welches Ihrer Bücher hat am meisten zu Ihrer persönlichen Entwicklung und der Ihres literarischen Werdegangs beigetragen?
Anja Utler: Mich hat ein Widerspruch immer beunruhigt: Wir sind als körperliche Wesen unauflösbar in die Welt gestrickt, unsere Membranen sind durchlässig, die Umschlagsprozesse von Außen nach Innen und umgekehrt müssen ununterbrochen ablaufen und balanciert werden. Nur gibt die Sprache diesen ökologischen Beziehungen kaum Resonanz. Stattdessen bietet sie uns Positionen an, von denen aus wir distanziert betrachten können. Das ist nötig, aber auch auf gefährliche Weise fiktional und unzureichend. Es hemmt die Auseinandersetzung mit unserer radikalen Abhängigkeit in ihrer ganzen gedanklich-emotionalen Tragweite. In meiner Poesie versuche ich daher, dem Sprechen eine ökologische Perspektivierung abzuringen, in der sich Berührungs- und Durchdringungsrelationen abdrücken. Dazu tippe ich eine Sprachschicht an, in der sich alle meine Erfahrungen mit der Welt, wie ich durch sie und sie durch mich hindurchtritt, in den Wörtern ablagern. Der Psycholinguist Lev Vygotskij hat sie das „innere Sprechen“ genannt. Dort ist das Fleisch der Dinge mit den Körpern der Wörter verwachsen. Dort interagiert das Wissen, dass Abgrenzungen nur temporär sind, Positionen beweglich, verwund- und angreifbar, die Beziehungen zwischen übergroßer Nähe und Entzug instabil, mit dem sprachlichen Denken. Sprechen ist dort weit mehr als das, was man niederschreiben kann. Es ist kein beruhigender Ort, aber ich halte ihn für wirklichkeitsempfänglich und wichtig und in meinem Buch münden – entzüngeln konnte ich mich zum ersten Mal dem Ziel nähern, ihm eine poetische, schriftliche wie gesprochene, Resonanzfläche zu geben.
Simona Popescu: Die Grenzen der Literatur… Es gibt ganz viele Verknüpfungen zwischen meiner Literatur und Biologie, Musik oder Film.
Welches meiner Bücher zu meiner Entwicklung beigetragen hat? Alle! „Exuvii” („Exuvien”) ist ein Roman, der die Entwicklung beschreibt, durch das, was wir Sinneswahrnehmung nennen.
„Lucrări in verde. Pledoaria mea pentru poezie” („Bilder in Grün. Mein Plädoryer für die Lyrik”) ist über die Welt der Lyriker:innen. „Noapte sau zi” („Nacht oder Traum”) über Träume. „Cartea plantelor si animalelor” („Das Buch der Pflanzen und Tieren”) über Unsichtbares und Unbekanntes, über die Welt und den Mensch als Spezies. Das wären einige meiner Bücher. Aber das, was ich im Laufe der Zeit geschrieben habe, kann wie ein Bildungsroman oder ein Bildungspoem gelesen werden. Zu meiner Entwicklung haben auch die Bücher beigetragen, die demnächst erscheinen werden (manche habe ich um das Jahr 2000 angefangen zu schreiben)!
Übersetzt von Manuela Klenke
Anja Utler: https://de.wikipedia.org/wiki/Anja_Utler
Simona Popescu: https://www.rciusa.info/post/life-anew-writers-imagine-the-world-after-the-pandemic—simona-popescu